Generalat der Krankenschwestern vom Regulierten Dritten Orden des hl. Franziskus

Schwester M. Anne Günnewig


Zwanzig Jahre habe ich zuhause gelebt, zwanzig Jahre war ich unterwegs.

Seit 1980 habe ich in Tilbeck meine Berufung und meine Heimat gefunden nach dem Wort des hl. Franziskus „Das ist es, was ich suche, das verlange ich aus innerstem Herzen zu tun“.

Am stärksten geprägt haben mich die Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeit, die Kirche, das Leben mit und für Menschen mit Behinderungen.

Vor 75 Jahren wurde ich in Warendorf (25 km von Münster, Stadt des Pferdes) geboren. Ein Jahr später kamen meine Schwester und weitere fünf Jahre danach mein Bruder zur Welt. Mein Vater arbeitete als Schlosser in einer Landmaschinenfabrik. Meine Mutter machte von 1939-1940 die Hebammenausbildung und war dann, wie ihre Schwiegermutter, als Hebamme tätig.

Mein Vater musste 1943 in den Krieg; er hat seinen Sohn nur einmal gesehen und ist 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft verhungert und erfroren. Die Nachricht erhielten wir erst 1947.

Der Vater nicht da, die Mutter für ein Jahr in der Ausbildung und dann Tag und Nacht unterwegs (die Geburten fanden damals zuhause statt, und 10 Tage Pflege zweimal täglich gehörten dazu) – ich war die Älteste und musste früh allein zurechtkommen und Verantwortung übernehmen. Anerkennung gab es für Leistung und Wohlverhalten, Lob selten, an Zärtlichkeit und Liebe kann ich mich kaum erinnern.  In den Wirren des Krieges, mit den vielen Todesnachrichten, in den Gefahren und Unsicherheiten fühlte ich mich verloren und allein gelassen. Von 1945 – 1947 bin ich fast jeden Tag zum Bahnhof gegangen, um meinen Vater abzuholen. Zwei Männer aus unserer Straße habe ich mitgebracht – aber mein Vater kam nicht.

Ich bin in den Kindergarten (mit Ordensschwestern) und in die Schule gegangen und fast 16 Jahre täglich in die Hl. Messe zur Pfarrkirche, die nur zwei Minuten von zuhause entfernt war.

Auch in der Schule musste ich durch Leistung erarbeiten, was uns an Reichtum und sozialem Ansehen fehlte. Lernen und besonders Lesen waren für mich eine neue und geliebte Welt.

Nach dem Abitur 1957 studierte ich bis 1963 Medizin in Marburg, Münster, Gießen und Münster (Um Geld zu verdienen arbeitete ich in den Ferien in einer Weberei.)
Nach 2 Jahren Medizinalassistenten- Tätigkeit in Wiesbaden (Chirurgie, Neurologie und Psychiatrie), Buchholz (Innere Medizin) und Hanau (Gynäkologie) erhielt ich Approbation und Promotion und war dann 3 Jahre in einer Landpraxis als Assistenz-Ärztin tätig. 1969 begann ich die Weiterbildung zur Fachärztin für Kinderheilkunde in Stolberg und schloss sie 1972 in Münster,
St. Franziskus-Hospital ab.

Ich war 35 Jahre alt und hatte erreicht, was ich wollte. Aber arbeiten, heilen und helfen, Geld und Anerkennung - „das kann doch nicht alles sein“.

Beten, Religion und Kirche waren in meiner Kindheit Selbstverständlichkeiten gewesen, während des Studiums noch Gerüst. Während meiner Arbeit im St. Franziskus-Hospital bin ich wieder regelmäßig zur Messe ins Mutterhaus gegangen; ab und zu wurde ich eingeladen, die Fürbitten zu sprechen. Bei Besuchen bei meiner Trappisten-Freundin fühlte ich mich besonders vom Psalmengebet/-gesang angesprochen. Der Gedanke  ins Kloster zu gehen kam unerwartet, und ich habe mich lange dagegen gewehrt und es für eine „midlife crisis- Idee“ gehalten! Aber die Entscheidung war dann mit so großer Freude und Erleichterung verbunden, dass ich sie für richtig hielt.

Es war die Zeit nach dem 2. Vatikanischen Konzil. Die ersten Jahre waren unruhig und manchmal schwierig. Zu dem Wort „Meister, wo wohnst Du? Kommt und seht! Sie gingen mit und sahen, wo er wohnte und sie blieben...“  (Joh. 1,39) - das war der Text zur Vorbereitung auf die 1. Profess - kam immer wieder die Frage „wollt auch ihr weggehen?“ (Joh. 6,67)

1976 war ich das erste Mal in Indien (Pithora). Da alle Bemühungen um ein Aufenthaltsvisum vergeblich waren, wurde ich 1998 nach Tilbeck gesandt – und habe dort mein Herz verloren. Es war Liebe auf den ersten Blick! Sechs Wochen später kam das Visum für Indien! Ich verstand Gott und seine Wege mit mir nicht. Aber ich bin gegangen. Schon nach einigen Monaten und nach intensiven Exerzitien habe ich um die Rückkehr nach Deutschland gebeten. Nach 13 Monaten in Bhopal hat Schwester M. Angela mir am 2. Weihnachtstag gesagt, dass ich wieder nach Tilbeck dürfe. Dieser Tag, der Neubeginn in Tilbeck, die Vorbereitung und die Ewigen Gelübde 1980 waren meine glücklichste Zeit im Kloster. 1985/1986 war ich noch einmal für fünf Monate in Ramgarh/Indien.

In dem Buch „Die Mauritzer Franziskanerinnen“ von 1994 steht ein ausführlicher Artikel über mein Leben und meine Arbeit in Tilbeck.

Seit 7 Jahren bin ich Rentnerin; vormittags gehe ich in die Wäscherei. Die körperliche Arbeit, der Kontakt mit unseren Bewohner/innen und der ‚freie Kopf‘ sind mir wichtig. Ereignisse, Gedanken und „Bilder“ können hochkommen und wieder lebendig werden und Nach-Sinnen ist möglich.

Wenn ich nach meinen stärksten Impulsen oder Gefühlen gefragt werde, so sind das: Empörung über Ungerechtigkeit, Sehnsucht und Staunen, die mir helfen, nicht aufzugeben oder zu resignieren und immer wieder Fragen und Hinter-Fragen. „Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich ganz erkennen, sowie ich auch ganz erkannt bin.“ (1 Kor 13,12b) und: „Es genügt dir meine Gnade“ (2 Kor 12,9a)

Gott hat gerufen, ich habe gehört und bin IHM gefolgt. Mein Leben ist keine Erfolgs-Geschichte, aber eine Gefolgs-Geschichte.